‚Wir sind mehr!‘
Foto: Hans-Peter Schwöbel
Des Menschen stärkster Antrieb ist nicht sein Streben nach Wahrheit, sondern nach Anerkennung. In den Jahrhundertausenden der Menschheitsgeschichte hat uns dieses Grundbedürfnis zu unseren wunderbarsten Leistungen, erstaunlichsten Heldentaten, größten Dummheiten und schlimmsten Verbrechen geführt. Die Sehnsucht nach Anerkennung ist eine starke Kraft, die auch unsere Alltage strukturiert. Ohne sie gäbe es wohl keine Moral, keine Glaubensideen, keinen Gott, keine Religionen und keine Ideologien, keine Philosophien, Wissenschaften und Künste. Oder all diese Vorstellungen wären völlig anders beschaffen.
Der Wunsch nach Anerkennung kann sich stark intensivieren durch die Angst, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Auch diese Angst ist ein Urmotiv des Menschen. Sie steigert sich, wenn Menschen etwa um ihren Arbeitsplatz fürchten müssen.
Am Wunsch nach Anerkennung ist zunächst nichts Beschämendes. Es ist einfach eine menschliche Grundtatsache. Interessant wird es, wenn es um die kritische Analyse persönlicher und kultureller Qualitäten des Strebens nach Anerkennung geht. Hier stellen sich diese Fragen: Wer sucht wann wofür bei wem Anerkennung und zu welchem Preis? Wer verweigert wem wann wofür Anerkennung und zu welchem Preis?
Dabei zeigen sich Strukturen und Dynamiken von Anpassung und Widerstand, Selbstaufgabe und Selbstbehauptung, von Vergemeinschaftung und Trennung bis zur tiefen Spaltung und der Verwandlung des Einen ins Andere. Es treten charakterliche und kulturelle Qualitäten und Muster hervor, die wir beschreiben können und zu denen wir Stellung beziehen dürfen und müssen.
Seit Jahrzehnten baut sich, im Wesentlichen von den USA ausgehend, in den westlichen Gesellschaften ein immer aggressiverer Kulturkampf auf. Sehr kleine Gruppen „linker“ Aktivisten betreiben Dominanzpolitik. Ihr Anspruch: Wir setzen Wörter, Themen und moralische Standards. Wir machen Meinungen. Wir anerkennen oder verwerfen. Wir kontrollieren die Belohnungs- und Bestrafungssysteme. Wir entscheiden über Gut und Böse. Wo unsere Aussagen nicht mit der Realität übereinstimmen: Umso schlimmer für die Realität! Wer nicht für uns ist, ist wider uns.
Wahrheit ist für diese Leute ein rein sprachliches Phänomen. „Follow the Science!“ wird als Bekenntnis ins Universum gebrüllt. Was Wissenschaft sein könnte, bleibt dabei weitgehend unbegriffen. Diesen Leuten geht es nicht um Wahrheit, nicht um Demokratie und Rechtsstaat und schon gar nicht um Aufklärung und Emanzipation. Sie berauschen sich an der Macht und genießen es, Anderswahrnehmende und Andersdenkende zu beschämen und auszugrenzen. Sie sind reaktionär.
Um nur die wichtigsten, vielfach miteinander verwobenen Strömungen und Tendenzen zu nennen: Antifa. Woke-Milieu. Anti-emanzipatorischer Feminismus. Anti-emanzipatorische Sprachdespotie. Natur- und umweltfeindliche Klimapolitik. „Kapitalismus- und Imperialismuskritik“ als bramarbasierendes Verschwörungsgeblubbere. Popanz Patriarchat. Popanz Rassismus. Popanz AlterWeißerMann. Totalitäres Denken. Ihr Anspruch „Wir sind mehr!“ ist pure Halluzination – aber eine sehr wirkmächtige.
Natürlich könnten kleine Gruppen von „Aktivisten“ nicht so viel Macht ausüben, wenn sie nicht eingebettet wären in ein großes, wohlwollendes links-illiberales Milieu, das die Vorzüge kapitalistisch-bürgerlicher Systeme in vollen Zügen genießt und sich gleichzeitig als Rebell fühlen will. Eine höchst konsumistische Unterhaltungsindustrie incl. Rock- und Protestbetrieb ist Beispiel für das, was ich meine. Privilegien genießen und gleichzeitig als „Rebellen“ über die Lande ziehen. In der kapitalistischen Realität harte Dollars verdienen. Reich werden. Maskiert mit wilden Haaren, Nasenringen, Tattoos, zerrissenen Jeans, Lederjacken, geballten Fäusten: Hardcore-Konformismus als Mummenschanz und Mimikry.
Jeder, der sich diesem Hirngespinst verweigert, hilft, es ad absurdum zu führen.
Der Schwöbel-BLOG am Samstag, 09. Juli 2022