GESTALT und SPRACHE 2

 

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Foto: Hans-Peter Schwöbel. Rotterdam 2019.

Sprache - Stadt - Heimstatt.

Gestalt als Kontinuität.
Es wurde gesagt, die Stadt sei das größte kollektive Gesamtkunstwerk, das Menschen je geschaffen haben. Ich teile die hohe Einschätzung der Stadt, möchte ihr aber die Sprache noch voranstellen. Sie ist Voraussetzung für alles Andere.

Wenn es um tägliche individuelle und kollektive Menschwerdung über die Jahrtausende geht, steht das Wort über dem Werkzeug und dem Werk der Hände: „1Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. 2Dasselbe war im Anfang bei Gott. 3Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.“ (Johannesev. 1, 1- 4) Der Autor dieser wunderbaren Zeilen versteht den Menschen. Und vielleicht Gott.

Die komplexe Gestalt menschlicher Sprache umfasst die Welten, in denen wir leben: Natur, Psyche, Gesellschaft. Die Natur begabt uns zum Denken, Sprechen und Kommunizieren mit den Mitteln komplexer Sprache. Wir müssen diese auf dem Wege der Kommunikation (Gesellschaft) erlernen, verinnerlichen (Psyche), bewahren und weiterentwickeln durch Denken, Fühlen, Erinnern, Erwarten und Kommunizieren. Und Transzendenz: Sprache erlaubt uns, weit über uns hinaus zu denken.

W. G. Sebald: „Die Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt mit einem Gewinkel von Gassen und Plätzen, mit Quartieren, die weit zurückreichen in die Zeit, mit abgerissenen, assanierten und neuerbauten Vierteln und immer weiter ins Vorfeld hinauswachsenden Außenbezirken...“ (1)

Das Konzept GESTALT entnehmen wir der Erkenntniswissenschaft Gestalttheorie (2). W. G. Sebald unterstützt unser Verstehen, indem er die abstrakte Sprachgestalt mit dem Bild einer Stadt vergleicht, die wir uns gut vorstellen können.

Weder Stadt noch Sprache sind logische Systeme wie Mathematik oder Logik. Sie sind gewachsene, wachsende Gestalten und damit natürlichen Phänomenen weit ähnlicher als einem Produkt vom Reissbrett. Dennoch sind sie nicht amorph und dem Belieben anheimgestellt. Städte und Sprachen entwickeln ihre je eigenen inneren Verbindlichkeiten, Eigenheiten, Folgerichtigkeiten, Schönheiten und eine spezifische Vernunft, die man nicht ungestraft außer Kraft setzen kann.

Im Zweiten Weltkrieg wurden viele Städte in Deutschland und Europa zerstört. Der Wiederaufbau wurde nicht selten als Fortsetzung der Ent-Urbanisierung mit anderen Mitteln „durchgeführt“. Es wurde geschleift, geglättet, planiert und bis zur Unkenntlichkeit uniformiert. Ein Zauberwort: „Die autogerechte Stadt“.

Inzwischen haben wir dem Götzen Hyper-Mobilität so viele Opfer gebracht, dass es schwer wird, innezuhalten. Seit es Fußgängerzonen gibt, wurden viele Innenstädte noch radikaler uniformiert: Stadt als „Shopping-Mall“. Amazon & Konsorten und ihre Kunden sorgen nun dafür, dass diese wiederum monokulturelle Ausrichtung Verwahrlosungen von Innenstädten begünstigt.

Das Äquivalent zur brachialen, eindimensionalen, anti-urbanen „Modernisierung“ der Städte bildeten ab 1961 auf dem Lande die Kampagnen „Unser Dorf soll schöner werden“. Ich habe diese Anstrengungen schon früh als Dorfzerschönerungskampagnen aufgespießt.

Heute sind die Städte und Dörfer in Deutschland die schönsten, die im Krieg nicht zerstört wurden und/oder mit Fingerspitzengefühl und Gestaltungsbewusstsein wieder aufgebaut und weiterentwickelt wurden. Sie haben früh gezeigt, was Nachhaltigkeit bedeuten kann. Heidelbergs Schloss und Altstadt wurden von Bomben verschont. Ohne ihr verwinkeltes Zentrum wäre diese Stadt heute weniger bedeutend. Für Ladenburg gilt: Als der damalige Zeitgeist die Plattmacher auf die kleine Stadt loslassen wollte, fehlte dieser das nötige Kleingeld. Heute ist Ladenburg eine der schönsten Kleinstädte in der Kurpfalz - zunächst nicht erhalten durch besondere Klugheit, sondern weil damals die geplanten stadtgestalterischen Torheiten nicht finanziert werden konnten. Glück gehabt. Wenige Jahre später hat sich dann die Vernunft durchgesetzt.
 


(1) W. G. Sebald: Austerlitz. Roman. Fischer Taschenbuch 14864. Frankfurt/M 2003. S. 183. Zitiert in Sprache ist Heimat. Hans-Peter Schwöbel: Kinder des Wortes. Essays. Mannheim 2009, S. 172.

(2) Siehe auch Der Schwöbel-BLOG am Samstag vom 08. Mai 2021: “Let’s keep it simple!” Anmerkungen zu einem besonderen Buch (Olha Dunayevska/Kurt Guss) und Der Schwöbel-BLOG am Samstag vom 15. Mai 2021: Sind es Schwäne? und Der Schwöbel-BLOG am Samstag vom 05. Juni 2021: GESTALT und SPRACHE 1.

Diesen Essay möchte ich im nächsten Der Schwöbel-BLOG am Samstag, 19. Juni 2021 fortsetzen. Titel: Gendergerächt.

Der Schwöbel-BLOG am Samstag, 12. Juni 2021

Vom Fleisch der ewigen Vergänglichkeit

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Bibliografie von Hans-Peter Schwöbel
Vom Fleisch der ewigen Vergänglichkeit
Essays und Plädoyers 1
2. Auflage. Borgentreich 2021. 160 Seiten, gebunden, Fotos, Lesebändchen. 25,- €

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Fluchtkulturen

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