Vom Fleisch der ewigen Vergänglichkeit. Realität, Religion und Wirklichkeit.

Geschrieben von Prof. Dr. Hans-Peter Schwöbel

Über lange Strecken der menschlichen Entwicklung kann man sich die Grundverfas-sung unseres gattungsspezifischen Bewusstseins vielleicht wie folgt vorstellen. Ich skizziere die Vorstellungen modellhaft und stelle Fragen, die sich aus regionalen und stammesgeschichtlichen Gegenläufigkeiten, Ungleichzeitigkeiten, Ketzerbewegun-gen, Auslöschungen, Wiederentdeckungen und Amalgamierungen ergeben, zurück.



In den Frühzeiten des Menschen gibt es wohl keine Religion als gesondertes Span-nungsfeld im System gesellschaftlich-geistiger Arbeitsteilung und Bewusstseinsent-wicklung. Die frühen Menschen glauben nicht im heutigen Sinne an Götter, Geister, Engel und Dämonen, sondern leben mit diesen auf sehr konkrete und praktische Weise zusammen. Alle Ereignisse sind authentischer Ausdruck göttlich-geistiger Ei-genschaften, Intentionen und Aktionen. Erfolg und Misserfolg, Glück und Unglück, Sieg und Niederlage, Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod, Donnern und Blit-zen, Trockenheit und Regen und alles Andere sind geistig intendiert, und ohne Steu-erung und aktives Eingreifen durch Den Geist (Die Geister) nicht vorstellbar. Alle Dinge sind belebt und beseelt.

Bis zum heutigen Tage: Der Mensch schließt von sich auf den Rest der Welt. Wahr-scheinlich ist Selbstbezogenheit (‚Autismus’...?) ein Wesensmerkmal alles Lebendi-gen. Ohne sie kein Überleben. Aber schon die Natur relativiert den damit einherge-henden Egoismus durch den ebenso lebensnotwendigen und tief verankerten Altru-ismus. Die über die triebhafte Dynamik Egoismus-Altruismus hinausgehende geistige Relativierung unserer Selbstbezogenheit dagegen ist eine enorme kulturelle Leistung und Voraussetzung gesellschaftlicher Komplexität und Freiheit gleichermaßen: Auf-klärung.

Es ist den Menschen über Jahrtausende nicht möglich, zu erkennen, dass die Reali-tät, also das was objektiv ist, und die Wirklichkeit, also das was wir uns als Welt vor-stellen, nicht identisch sind. Zumindest kann das Wissen um die Differenz zwischen objektiver Realität und „gesellschaftlicherer Konstruktion der Wirklichkeit“ nicht als durchdringendes gesellschaftliches Bewusstsein entwickelt werden. Dass der eine oder andere gescheite Mensch auch in den Frühzeiten unserer Geschichte sich sei-ne eigenen (flackernden) Gedanken gemacht haben mag, sei nicht ausgeschlossen.

Die frühen Menschen leben in ihrem Bewusstsein wie in der Natur und wie in ihrer Haut. Sie und die sie umgebende Realität bilden eine Einheit. Diesseits und Jenseits sind nicht von einander geschieden. Die Welt ist ein Ganzes. Die Geister sind wohl (normalerweise) unsichtbar, aber sie sind nicht weniger ‚real’ als die sichtbaren Men-schen, Pflanzen, Tiere und Dinge. Bestimmte Ereignisse sind untrügliche Beweise nicht nur für die Existenz der Geister, sondern auch für deren Macht, Gefühle, Lau-nen, Charaktereigenschaften, Handlungsbereitschaften und Handlungen. Hinzu kommt, dass die Geister hin und wieder auch gesehen, gespürt und gehört werden können. Das weiß jeder, kann jeder aus eigenen Erfahrungen und den Erzählungen der Anderen bestätigen. Ich spreche vom magischen Bewusstsein, das die frühe Menschheit ebenso auszeichnet, wie die frühe Kindheit bis zum heutigen Tag. In Form von ‚Ahnungen’, ‚Erscheinungen’, ‚Erlebnissen’, ‚Offenbarungen’ und Reliqui-enkulten hat sich magisches Bewusstsein bis in unsere Tage erhalten.

Auch wissenschaftlich gebildetes, hochrationales Bewusstsein ist nach wir vor von magischen Linien und Vibrationen durchdrungen. Magisches Bewusstsein ist die Mutter aller Bewusstseinszustände. Es gehört zu den Definitionsmerkmalen der Gat-tung Mensch. Ohne magisches Bewusstsein keine Religion aber auch keine Wissen-schaft, keine Kunst und keine guten Wünsche zum Geburtstag und Genesungswün-sche im Krankheitsfalle: „Ich wünsche Dir alles Gute und drücke Dir die Daumen...“ „Ich bete für Dich und wünsche Dir Gottes Segen...“ Ich bete für mich und wünsche mir Gottes Segen... So bald und so lange wir uns der Eigenschaften, Risiken und Chancen magischen Bewusstseins bewusst sind, müssen wir uns nicht dafür schä-men und uns auch keine Sorgen machen. Es gehört einfach zur besonderen Schön-heit und Komplexität der Gattung Mensch. Vielleicht stellt es auch die größte geistige Nähe zu den hochentwickelten unter unseren Geschwistern, den Tieren, dar?

Magier, Mönche und Schamanen

Im weiteren Verlauf der menschlichen Entwicklung bilden sich erste geistige Arbeits-teilungen heraus. Die Beziehungen zum Geist (zu den Geistern) werden professiona-lisiert. Es entstehen die spezifischen Funktionen und Positionen, später Berufe, der Magier, Priester, Prediger, Mönche und Schamanen. Spezialisten übernehmen zu-nehmend die Ergründung und Pflege religiöser Tiefenstrukturen und Traditionen. Es entwickeln sich Absonderungs-, Ausbildungs- und Veredelungsprozesse, Tabuorte und Tabuzeiten, Ritualisierungen und Geheimwissen. Damit erhebt sich der religiöse Glaube über andere Teile des Bewusstseins und kann so Gegenstand gezielter For-mung und auch Manipulation werden. Glaubensgestaltung, Glaubensbewahrung, -entwicklung, -verbreitung und -verwaltung einerseits und Macht andererseits sind wohl die ältesten und innigsten Bündnisse in der Bewusstseins- und Kommunikati-onsgeschichte, also der Wirklichkeitsgestaltung der Menschen.

Evolution und Kulturgeschichte stelle ich mir als kontinuierliche und gleichermaßen mutative (sprunghafte) Prozesse vor. Das Zentrum menschlicher Entwicklung scheint mir die (immer gemeinschaftliche) Praxis des Menschen zur Bewältigung seines All-tags zu sein. Mit besonderer Bedeutung der Notwendigkeit und zunehmenden Fä-higkeit, Probleme zu lösen, das heißt, Erfahrungen zu sammeln und umzusetzen, auszuprobieren und zu denken.

Der Sündenfall

In der Genesis ergibt sich der Sündenfall aus dem Griff des Menschen nach Er-kenntnis. Schöner könnte eine moderne Evolutionstheorie des menschlichen Be-wusstseins das auch nicht sagen. Der Text lässt vermuten, dass die Menschen früh das Janusköpfige des Erkennens empfinden: Verstehen bedeutet immer Erleuchtung und Verdunklung gleichermaßen; denn es füllt nicht einfach eine Leere aus. Neue Erkenntnis bedeutet immer auch, Vertrautes und Verstandenes zu verlieren, Ge-wusstes zu vergessen. Der Kampf zwischen Veränderern und Verteidigern des spiri-tuellen Status quo zwischen Atheisten, Agnostikern und Frommen, Liberalen, Ortho-doxen und Fundamentalisten, Zweiflern, Spöttern und ‚naiv’ Glaubenden (und das manchmal in ein und der selben Person oder kleinen Gruppe!) reißt immer wieder Wunden auf.

Schon in der Antike gibt es Ansätze zu kritisch-rational-skeptischen Blicken auf die Götter und die Beziehungen der Menschen zu ihnen. Der entscheidende Durchbruch des kritisch-rationalen Bewusstseins mit Folgen für die ganze Welt, gelang aber wohl erst in den letzten gut fünfhundert Jahren in Europa mit besonderer Bedeutung der Epoche der ‚Aufklärung’. Ihr waren schon lange Geisteskämpfe vorausgegangen.

Wie der Kampf zwischen eher spekulativ-magischem, auch manipulativem („reaktio-närem“) und eher empirisch-logischem („aufklärerisch-progressivem“) Bewusstsein im hohen Mittelalter ausgesehen haben könnte, zeigt Umberto Ecos Roman ‚Der Name der Rose’. Eco lässt seine Geschichte in einer Benediktinerabtei im Jahre 1327 spielen. Schon hier zeigt sich die Erosion des magischen, vorwissenschaftli-chen von den Dogmen der katholischen Kirche gesteuerten gesellschaftlichen Be-wusstseins. Die Kirche büßt ihr Deutungsmonopol ein. Das ‚gläubige’ Bewusstsein ist nicht mehr naiv sondern durch Macht und Manipulation gesteuert. Vielleicht glauben noch Bauern und manche Novizen naiv. Viele Priester und Mönche sicher nicht mehr. Verteidiger des ‚wahren Glaubens’ haben es schon früh faustdick hinter den Ohren.

Das Bewusstsein: ein gesellschaftliches Produkt

Im magischen Bewusstsein, in dem Natur, Diesseits, Jenseits und Gesellschaft als Einheit erlebt werden, ist es Menschen nicht möglich zu erkennen, was Karl Marx postulierte: „Bewusstsein ist also von vornherein schon ein gesellschaftliches Pro-dukt und bleibt es, solange überhaupt Menschen existieren.“ Die gesellschaftliche Arbeitsteilung auf den Feldern des Geistes und die Professionalisierung der Glau-benspflege hindern die Masse der Gläubigen aber auch weiterhin daran, diesen Zu-sammenhang zu erkennen.

Die großen Revolutionen und Paradigmenwechsel sollten aber erst folgen: Wieder-entdeckung Amerikas; Kopernikanische Wende; Verbreitung der Druckkunst in Euro-pa und damit Aufblühen revolutionärer Philosophie, Kunst und Literatur; wissen-schaftlich-technische Revolutionen, Reformationen und Glaubenskriege; Herausbil-dung von Nationalstaaten; Kolonisierung großer Teile der Welt durch Europa mit Kreuz, Schwert, Mission, ‚Aufklärung’ und mehr. Vieles davon mit enormen Verzöge-rungen, was den Wandel gesamtgesellschaftlicher Bewusstseinsinhalte angeht. He-xenverbrennungen gab es in Europa noch bis ins hohe 18. Jahrhundert. Hexenjag-den im wörtlichen und übertragenen Sinne gibt es bis zum heutigen Tag weitverbrei-tet auf der Welt. Tendenz, wie mir scheint, wieder steigend.

Die Welt als Vorstellung

Der entscheidende Umbruch wird der philosophischen Aufklärung in Europa zuge-schrieben. Spätestens seither wissen wir: Wir haben nicht die Welt im Kopf, nicht das ‚Wesen’ der Dinge, nicht die objektive Realität sondern Welt-Bilder, ‚Erscheinungen,’ ‚Phänomene’, Vorstellungen von der Welt.

Diese Vorstellungen entstehen durch Wahrnehmen (Aufmerksamkeit, Blickwinkel...), Fühlen (Neugierde, Interesse, Desinteresse, Angst, Schmerz, Motivation...) und Denken (geistig ausprobieren, nachvollziehen und vorwegnehmen); durch Phantasie (auch Träume, Halluzinationen, Erscheinungen...) und Projektion, durch Lernen und Vergessen; durch Konstruktion und nicht zuletzt Kommunikation. Sowie durch endlo-se Wechselwirkungen zwischen diesen Prozessen über Jahrtausende unter Beteili-gung von Milliarden von Menschen (Traditionen und Bruch von Traditionen).

Kopernikanische Wende

Der Mensch und seine Erde werden aus dem Mittelpunkt des Weltalls hinaus ge-schleudert an den Rand (einen der unzähligen Ränder) eines randlosen Universums. Gleichzeitig wird der Mensch insofern zum Mittelpunkt ‚der Welt’, als alles Erfassen, Erkennen und Verstehen Ausdruck seiner Wahrnehmungs- und Interpretationssys-teme und -prozesse ist. Sein Bewusstsein bildet die Welt nicht ab, vielmehr erzeugt sein individuelles und gesellschaftliches Bewusstsein die Welt, in der er handelt. Was ein Philosoph wie Immanuel Kant geistig (durch Denken) erschloss, ist längst selbst-verständlich und millionenfach wissenschaftlich belegt. Endlich verstehen wir, warum wir fälschlicherweise glauben mussten, der Nabel der Welt zu sein: Wir stehen nicht im Mittelpunkt der Realität sondern im Zentrum unserer Wahrnehmungshorizonte und Kommunikationsgeflechte.

In diesem Zusammenhang kommt, wie bereits angesprochen, der menschlichen ‚Praxis’ besondere Bedeutung zu, ein Konzept, das Karl Marx sehr differenziert ent-faltet hat. Praxis als der alltägliche Prozess, in dem Menschen sich denkend, han-delnd und fühlend vergesellschaften und Strukturen entwickeln, um ihr Leben zu or-ganisieren und ihre Probleme zu bewältigen. Praxis als der Prozess, in dem der Mensch seine biotischen, psychischen und sozialen Möglichkeiten, Energien und Erfahrungen entfaltet, der aber gleichzeitig seine je historischen Möglichkeiten be-grenzt. Oft sind wir ernüchtert und beschämt, wie wenig Bildung, Aufklärung und Verstehen ausrichten können gegen persönliche Gewohnheiten, Gewissheiten und Abhängigkeiten, gegen gesellschaftliche Strukturen und tatsächliche oder vermeintli-che Zwänge. Dies ist wohl gemeint mit der Volksweisheit: Wir können nicht über un-seren Schatten springen.

Deutungen ohne Gewissheit

Hinter die Einsicht, dass wir nicht die Welt, nicht die Realität im Kopf haben, sondern Weltbilder, Weltanschauungen, Weltanhörungen, Weltanfühlungen, Weltvermutun-gen, Welterwartungen, Welterinnerungen, Weltvergessen, können und dürfen wir nicht zurück. Insofern müssen wir uns nicht darum kümmern, ob ein Satz, ein Buch, eine Kirche, ein Wolkenbruch, eine Errettung, eine Katastrophe unmittelbarer Aus-druck göttlicher Präsenz ist. Für uns Menschenkinder ist es in jedem Fall eine Frage der Interpretation, der Deutung. Wir deuten. In religiösen Debatten deuten wir bereits vielfach Gedeutetes weiter. Wir deuten Deutungen von Deutungen. Wir spekulieren und fabulieren. Das dürfen wir, das müssen wir, solange wir mit diesen Deutungen nicht unseren Hunger nach Gewissheit stillen.

Die Wahrheit ist nicht gewiss

Gewissheiten haben nichts mit objektiver Wahrheit zu tun. Apostel Paulus sagt es so: „Wir sehen jetzt durch einen zerbrochenen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich's stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ (1. Korinther 13, 12-13) Der Glaube an Gott wird zur Teufelei, sobald wir unserer Gewissheitsbesessenheit Gesundheit, Leben, Liebe und Freiheit von Menschen opfern. Weil die Realität nicht unmittelbar, unverfälscht und unverwechselbar zugänglich ist, steht alles Ahnen, Erkennen, Ver-muten, Deuten, Wissen, Glauben unter einem unaufhebbaren Irrtumsvorbehalt. Wis-senschaftler leben längst selbstverständlich damit, auch wenn das persönliche Ein-geständnis eines Irrtums nicht immer Vergnügen bereitet. Das Prinzip aber ist unbe-stritten.

Aus Sicht der Wissensphilosophie, Wissenstheorie und Wissensforschung können alle Informationszustände zunächst als Wissen akzeptiert werden. Gerüchte, Vorur-teile, Spekulationen und dunkle Ahnungen ebenso, wie etwas, was man „mit eigenen Augen gesehen“ hat, religiöse Glaubensvorstellungen ebenso, wie wissenschaftliche Hypothesen und Befunde, intuitives Erfassen, ebenso wie systematisch Erarbeitetes; denn all diese Wissenszustände haben ähnliche Funktionen in den Feldern Persön-lichkeitsentfaltung, Willensbildung, Verhaltensalternativen und Kommunikationsge-staltung. Welcher Art von Wissen wir eine Einsicht zuordnen, Gerücht, Glaube, Vor-urteil oder wissenschaftlicher Befund muss erst herausgefunden, kann nicht einfach zugeschrieben werden. Und alle unsere Zuordnungen stehen selbst wieder unter Irrtumsvorbehalt. Ein „Gerücht“ kann sich als wahr, ein „Vorurteil“ als zutreffend er-weisen, eine einflussreiche wissenschaftliche These als Irrweg.

Wider die Uferlosigkeit des Wissens

Es ist das Verdienst moderner Wissenstheorien, Wissenschaftstheorien und Wissen-schaften, Prinzipien, Regeln, Verfahren, Methoden, Techniken und Instrumente ent-wickelt zu haben, uferloses Wissen immer wieder zumindest temporär einzuhegen, zu stabilisieren und damit nutzbar zu machen. Methodologie, Verfahrenslehren und Technologien haben sich im Bündnis mit bestimmten Wissenschaften selbst zu eige-nen komplexen Wissenschaften entwickelt.

Besonders wichtig auch das Gebot der intersubjektiven Überprüfbarkeit. Das heißt, eine These muss so formuliert, Versuche müssen so gestaltet und beschrieben und Befunde müssen so aufbereitet werden, dass sie von unabhängigen Dritten selb-ständig überprüft werden können. Auf der Ebene der Verfahren, Methoden, Techni-ken und Instrumente spielen in diesem Zusammenhang exaktes Messen, Wiegen, Quantifizieren und Mathematisieren von Thesen, Befunden und Vergleichen (Statis-tik) eine große Rolle.

Ebenso bedeutsam das Falsifikationsgebot: Hypothesen müssen logisch so formu-liert werden, dass sie empirisch falsch sein können. „Alle Schwäne sind weiß.“ Wie können wir prüfen, ob dieser Satz wahr ist? Wir kümmern uns nicht um weiße Schwäne, sondern suchen nach Exemplaren, die nicht weiß sind; denn tausend wei-ße Schwäne beweisen den Satz nicht. Aber ein einziger schwarzer (grauer, gelber, grüner oder blauer...) Schwan, beweist, dass der Satz falsch ist. Natürlich kann der sehr globale Beispiel-Satz in der wissenschaftlichen Forschung tief ausdifferenziert werden. Dabei orientieren wir uns an einem bescheidenen aber produktiven Wahr-heitskonzept: Eine Aussage gilt so lange als wahr, so lange sie nicht widerlegt ist. So lange Erfahrungen, Befunde und Erkenntnisse Widerlegungsversuche überstehen, gelten sie als wahr. Der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Karl Popper sagt: „Wir wissen nicht, wir vermuten nur.“ An anderer Stelle sagt er sogar: „Wir wissen nicht, wir raten.“ Eine hochkarätige Naturwissenschaftlerin sagte kürzlich: „Unsere neuesten Erkenntnisse sind der aktuelle Stand unserer Irrtümer.“

Ich schlage vor...

Auf der Basis dieser Bescheidenheit werden gewaltige Kosmen von brauchbarem Wissen geschaffen, auch wenn die meisten Erkenntnisse immer wieder durch besse-re oder ganz andere Einsichten überwunden werden. Kostbare Erkenntnisressourcen dabei sind Neugierde, Fragen, Zweifel, Kritik, Fragen... Wissenschaft beruht auf dem Wettbewerb von Ideen, Theorien, Modellen, Methoden, Techniken und Instrumenten. Der Physiker Stephen Hawking präsentiert seine Ideen gerne mit der Formel: „Ich schlage vor...“

Die Spreu kann, wenn auch immer nur vorläufig, vom Weizen getrennt werden durch die Prüfung von Theorien, Verfahren, Methoden, Techniken und Befunden, die sich am Falsifikationsprinzip orientieren. Dazu braucht es hochgebildete, freie Wissen-schaftler, die sich der Suche, der Systematisierung und dem Verstehen der (immer vorläufigen) Wahrheit verpflichten.

Wahrhaftigkeit und Wahrscheinlichkeit

Wissenschaft und Glaube sind sehr unterschiedliche Versuche, die Welt zu verste-hen. Gemeinsam aber haben sie, dass Wahrheit längst nicht mehr als Fels aus Gra-nit gedacht werden kann. Wahrheit ist filigran, komplex, vielschichtig, schwebend, verletzlich, wandelbar, subjektiv und unaufhebbar von den Wahrnehmungssystemen und –prozessen des erkennenden Subjektes und der kommunizierenden Kollektive geprägt. Dies gilt selbst für das mit Abstand solideste Wissen, das wir bisher hervor-gebracht haben: Das Wissen der empirischen Wissenschaften, besonders bestimm-ter Naturwissenschaften. Wie viel mehr gilt es für die schwebenden, kaum fassbaren Wahrheiten des Glaubens.

Im Hinblick auf Wahrheit im Sinne objektiver Realität ist die Situation von Glaubens-systemen noch sehr viel fragiler als die der Wissenschaften; denn während sehr un-terschiedliche Wahrnehmer (Menschen, Tiere, Pflanzen, Aliens...) sich bei materiell-energetischen Phänomenen sicher darauf einigen könnten, dass da ‚etwas’ ist, dass da ‚etwas’ existiert (das sie allerdings unterschiedlich beschreiben würden), stellen religiöse Systeme Überlieferungen dar, deren wesentliche Wahrheiten weder verifi-ziert noch falsifiziert werden können. Gläubige prüfen ihren Glauben in der Regel nicht durch Falsifikationsversuche. Vielmehr erzeugen sie ‚Wahrheit’ durch Wieder-holen, Ritualisieren, Insistieren, Vergemeinschaften und durch kühne Vergleiche mit Beobachtungen in der Natur. Religionen sind gewaltige, kollektiv erzeugte Erzählun-gen: Geschichten und Anekdoten, Tragödien und Komödien, Klänge und Rhythmen, Gesänge und Gesetze, Gefangenschaften und Befreiungen, Rausch und Erwachen, Skulpturen und Gemälde, Schweigen und Brausen, Erinnern und Erwarten...

Götter, Geister, Teufel und Dämonen sind kollektiv erzeugte Vorstellungen. Auch diese Einsicht steht natürlich unter Irrtumsvorbehalt. Allerdings warte ich immer noch auf gute Argumente und Befunde, die diese Vorstellung falsifizieren könnten. Ob Gott jenseits unserer Bewusstseins- und Kommunikationswirklichkeit Realität zukommt, konnten wir Menschen in Jahrzehntausenden trotz eifrigen Bemühens nicht in Erfah-rung bringen. Aber wir können die Existenz Gottes (von Göttern, Geistern und Dä-monen...) auch nicht ausschließen. Wir dürfen an Gott glauben = uns vorstellen, dass es ihn gibt.

Viele Gläubige würden der These zustimmen, dass Religionen im Wesentlichen Pro-jektionen von Naturerfahrungen, psychischen Zuständen und gesellschaftlichen Ver-hältnissen in geistig-geistliche Systeme sind – sofern es sich nicht um den eigenen Glauben handelt. Und dass diese geistig-geistlichen Systeme immer zutiefst Aus-druck ihrer Zeit sind, auch jene, die gegen den jeweils vorherrschenden Zeit-Geist gekämpft haben. Die Götterwelt der Ägypter, Griechen, Römer und Germanen zum Beispiel nehmen wir ganz selbstverständlich als komplexe Reflexe auf komplexe ge-sellschaftliche und natürliche Realitäten. Nur im Bezug auf den eigenen Glauben re-klamieren Gläubige gerne eine kosmische Realität jenseits allen individuellen und kollektiven Bewusstseins.

Ich habe noch keinen religiösen Satz gehört oder gelesen, indem der Mensch nicht als Mensch über den Menschen spricht. Wenn wir sagen ‚Gott will...’, ‚Gott sagt...’ ‚Jesus sagt...’, ‚...im Koran steht...’, ‚...in der Bibel steht...’, reden wir über uns. Die große Zahl, Vielfalt und die unendlichen Wandlungen von Religionen und Glaubens-vorstellungen sollten jeden "Rechtgläubigen" nachdenklich machen und Demut leh-ren. Wie wissenschaftliches Wissen durch Logik, Theorie und Methodik gebändigt und damit stabilisiert und nutzbar gemacht wird, so sollte den Gläubigen die Fülle der Glaubensbekenntnisse dämpfen in seinem Anspruch auf den Besitz der allein selig machenden Wahrheit. Tatsächlich stachelt die religiöse Vielfalt aber den Eifer von ‚Rechtgläubigen’ an, ihre ‚Wahrheit’ für die allein gültige zu halten.

Verstehen – Missverstehen - Andersverstehen

Glauben heißt, sich etwas vorstellen. Wissen und Verstehen auch. Hören und Spre-chen, Sehen, Zeigen, Schreiben und Darstellen vollziehen sich immer als Überset-zen, auch wenn die Kommunikation in einem gemeinsamen Zeichensystem erfolgt. Sender und Empfänger setzen über zum Anderen, über-setzen aus einer Wahrneh-mungs- und Erfahrungswelt in die andere. In Kommunikationsprozessen ist ausge-schlossen, dass alle alles vollkommen identisch verstehen. Alles Wahrnehmen und Mitteilen wird von einer Fülle individueller und kollektiver Nebenströme und Zusatz-bedeutungen begleitet, die sich niemals vollständig ineinander fügen können. Es gibt immer einen mehr oder weniger großen Rest an Differenz. Verstehen, Andersverste-hen und Missverstehen bedingen und durchdringen einander. Manchmal ist die Übersetzung besser (tiefsinniger, genauer, komplexer etc.) als das Original. Dies gilt für die großen kulturellen Erzählströme wie Religionen, Nationen, Heimaten, Literatu-ren, Malereien, Musiken, Wissenschaften, Philosophien, Ideologien, Brauchtume etc. nicht weniger als für jede banale Alltagskommunikation.

Wenn ein Schriftsteller und sein Leser, ein Bildschöpfer und sein Betrachter, ein Komponist und sein Hörer in eine Diskussion geraten, was wie gemeint ist, hat der Autor nicht von vorneherein eine höhere Autorität des Interpretierens als der Leser, Betrachter, Hörer. Wahrscheinlich kann eine systematisch-kritische Textinterpretation zu einer höheren Sicht der Dinge gelangen. Aber selbst sie, Sie ahnen es schon, steht unter Irrtumsvorbehalt. Diese Grundeinsichten liegen in besonderer Weise dem Toleranzgebot zu Grunde.

Im Bezug auf die großen Erzählströme der Kulturen, können wir die (manchmal nur vermuteten) Autoren aus praktischen Gründen nicht befragen, wie sie was ‚wirklich’ gemeint haben. Weder die Erzähler der biblischen Geschichten, noch der Prophet Mohammed, weder Karl Marx noch Karl May stehen uns zur Auskunft zur Verfügung. Es ist auch ziemlich wurscht, was sie sich jenseits dessen, was sie uns als Text (Bild, Musik) hinterließen, gemeint haben. Zusatzinformationen, wie den Zentraltext beglei-tende mündliche Überlieferungen, Lebens- und Geschichtsdaten können hilfreich sein, lösen aber das Grundproblem nicht. Möglicherweise erhöhen und erschweren sie sogar den Interpretationsaufwand. Unsere Verantwortung besteht darin, das Vor-gefundene nach bestem Wissen und Gewissen zu verstehen. Gründliche Befassung mit den Texten und ihrer Zeit sowie hohe allgemeine und spezifische Bildung können dabei der Qualität der Interpretation sehr gut tun. An der Tatsache, dass wir auf uns selbst geworfen sind, ändert das freilich nichts.

Woher weißt Du das?

Alle Religionen kennen Akte der ‚Erscheinung’ und der ‚Offenbarung’, bei denen scheinbar ein Fenster in die andere Welt aufgerissen, und diese so ‚bewiesen’ wird. Wir müssen jene, die solche ‚Erscheinungen’ haben oder denen ‚Offenbarungen’ zu Teil wurden, nicht rundweg für Betrüger halten, obschon sie es in vielen Fällen sind. Aber, sie stehen auch bei hoher persönlicher Integrität unter Irrtumsvorbehalt, wie alle erkenntnisfähigen Wesen. Selbst wenn wir die Authentizität dieser Ereignisse akzeptieren, ändert das nichts daran, dass alle anderen Menschen von dieser ‚Er-scheinung’ oder ‚Offenbarung’ als Erzählung erfahren und redlicher Weise auch so mit ihr umgehen sollten. Die entscheidende Frage, die wir oft aus Höflichkeit oder aus Angst gerade religiösen Menschen nicht zu stellen wagen, lautet: Woher weißt Du das?

Der Glaube an die unverfälschte, ewig gültige Gotteswörtlichkeit des Koran ent-spricht dem Zauber- und Wunderglauben, den Mohamed bei denen kritisiert, die von ihm Wunder fordern, um ihm glauben zu können. Gottes unverfälschtes (!) Wort in einer Menschensprache wäre ein gewaltiges Wunder. Warum sind Menschen über die Jahrtausende immer wieder so versessen auf diese ‚Wunder’? Weil die zu be-weisen scheinen, dass unseren (Glaubens-)Vorstellungen kosmische Realitäten zu-grunde liegen, die außerhalb und ganz unabhängig von uns existieren, dabei aber unseren menschlichen Erfahrungen und Vorstellungen von dem entsprechen, was Realität sei. Genau deshalb gelingt keiner Religion dies Gebot umzusetzen: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist.“ Die strengsten Benennungs-, Benamungs- und Bildverbote führen nur zu Ver-schiebungen zwischen verschiedenen Zeichensystemen und Medien und letztlich zu Intensivierungen unserer Phantasietätigkeit. Niemand glaubt so sehr an die Macht der Bilder und Wörter wie die Bilderstürmer und die Sprech- und Denkverbieter.

Ins Fleisch der ewigen Vergänglichkeit

Es ist das nämliche Muster, das an die ‚Echtheit’ der Turiner Grabtuches, an die ‚un-befleckte Empfängnis’ der Mutter Maria, an die physische Auferstehung von den To-ten, an die Wundmale der Theres von Konnersreuth, an die Heilungen von Lourdes und Wunder an tausend anderen Stätten glaubt. Die Gläubigen wollen (fast möchte man sagen: auf Teufel komm raus!) den nichtrostenden Stahl der unvergänglichen Ewigkeit ins Fleisch der ewigen Vergänglichkeit treiben. Sie rebellieren gegen ihre Gefangenschaft in der Raum-Zeit. Sie hadern damit, dass sie ihre natürliche Be-grenztheit und Beschränktheit nicht verlassen können, außer auf den Schwingen der Phantasie, der Trance, der Ekstase, der Mystik, der Erzählung und des magischen Bewusstseins. Und selbst die können unsere gattungsspezifischen Grenzen nicht außer Kraft setzen. Die Gläubigen können sich selbst und ihren Kritikern und Spöt-tern nicht verzeihen, dass glauben heißt, sich etwas vorstellen. Und sich daraus ergibt, dass es keinerlei Legitimation gibt gegen einen, der sich etwas anderes vor-stellt auch nur laut zu werden, viel weniger, ihm die Hand oder den Kopf abzuschla-gen, ihn zu steinigen oder auf den Scheiterhaufen zu schleppen.

Geißeln der Menschheit

Den Koran durchzieht eine glühende Wut des Propheten darüber, dass offenbar viele seiner Zeitgenossen an den Offenbarungscharakter seiner Mitteilungen nicht glauben wollen, nicht glauben können. Ihnen prophezeit, heute würden wir wohl sagen: wünscht, der Prophet, respektive Allah unzählige Male die Hölle. Allein die Art und Weise, wie Mohammed / Allah / Koran auf Zweifler, Kritiker und Glaubensverweige-rer reagiert, disqualifiziert dies Buch als Grundlage anspruchsvoller geistiger Syste-me unserer Tage.

Gläubige tun sich schwer mit der Vorstellung, dass alles ganz anders sein könnte als sie glauben, suchen sie doch vor allem Gewissheit. ‚Wahrheiten’ erscheinen ihnen sinnlos, sofern sie keine Gewissheiten darstellen. Und es ist wohl wahr: sobald Gläubige den Anspruch auf Gewissheit zentraler Vorstellungen ihres Glaubens auf-geben, verwandelt sich ihre Religion in Philosophie, ihr Glaube in Ethos. Davor ha-ben viele fundamentalistisch Glaubende viel mehr Angst als vor anderen (‚konkurrie-renden’, ‚feindlichen’) Religionen, die ähnlich fundamentalistisch verfasst sind. Dabei ist an der Welt als Vorstellung, als Idee und Konstrukt nichts Anstößiges, nichts Be-schämendes. Im Gegenteil: dies Wissen befreit. Ich empfinde die Verwandlung von (eingebildeten) Gewissheiten in Prozesse des Fragens und Suchens als Reifeprü-fung und als Akt der Emanzipation für jeden einzelnen Menschen und für ganze Kul-turen. Wahrheit gibt es nur als (subjektive) Wahrhaftigkeit und als (objektive) Wahr-scheinlichkeit, nicht als Gewissheit.

Den Koran lesen!

Langsam taucht auch in Deutschland die Frage auf, ob der weltweite Islamismus (mit und ohne Terrorismus) nicht doch etwas mit dem Koran zu tun haben könnte. Die Frage kommt spät und wird ohne Selbstbewusstsein gestellt – verständlicherweise. Gefühlte 99% der Nicht-Muslime haben den Koran nicht gelesen. Wie viele Muslime den Koran gut kennen, wage ich nicht einzuschätzen.

Im Zweifel ergreifen die Menschen in Deutschland Partei für den Islam, ohne den Koran zu kennen. Haben wir doch Angst, als rassistisch, fremdenfeindlich und isla-mophob zu gelten. Um Boden unter die Füße zu bekommen, kann ich nur empfeh-len, den Koran zu lesen. Der Koran erklärt nicht alles. Aber ohne den Koran verste-hen wir nichts.

Vor über vierzig Jahren habe ich den Koran zum ersten Mal ganz gelesen. Dies ge-schah im Zusammenhang meiner Vorbereitung auf einen zweijährigen Arbeitsauf-enthalt in Somalia, wo ich jeden Tag intensiven Kontakt mit sunnitischen Muslimen hatte. Meine Kollegen und Schüler waren alle Muslime. Ich bildete somalische Ko-ranlehrer zu Alphabetisierungslehrern aus, entwickelte Unterrichtsmodelle, unterrich-tete täglich und stellte Unterrichtsmaterial her (Bücher, Lehrerbegleithefte, Zeitungen, Dia-Serien, Filme, Rechen- und Alphabetisierungskästen und vieles mehr). Und ich beriet die somalische Regierung auf Minister- und Staatssekretärsebene in Fragen von Erwachsenenalphabetisierung. Meine Methode, sowohl im Unterricht als auch bei der Produktion von Materialien: Ich ließ mir von meinen Schülern ihre Welt erklä-ren und formte dies zu Lektionen, die wir so gemeinsam schufen. Im Unterricht ent-stand eine enorm kreative und produktive Dynamik. Meine erwachsenen Schüler entwickelten sich innerhalb von ca. acht Wochen aus Analphabeten zu Alphabetisie-rungslehrern, in dem sie mir ihre Welt erklärten. Ich musste nur Anfangsimpulse set-zen und danach zuschauen, zuhören und ganz wenig steuern.

Somalen sprechen somalisch. Der Koran aber wird dort, wie anderswo auch, ara-bisch vermittelt. Viele Somalen kennen Teile des Koran auswendig, ohne ihn zu ver-stehen. Dies gilt für Koranschüler und Koranlehrer gleichermaßen. Auswendiglernen hat in islamischen Kulturen Tradition - ein großer Schatz und ein schlimmes Übel gleichermaßen. Die Inhalte des Koran verschwinden fast völlig hinter (teilweise sehr eindrucksvollen) Sprechrhythmen und –melodien. Und: der Stock, oft ein richtiger Knüppel, ist ein häufig eingesetztes pädagogisches Instrument in Koranschulen. Später verbrachte ich noch Arbeits- und Studienaufenthalte in den muslimischen Ländern Iran, Senegal und Gambia. Ich spreche seit Jahrzehnten mit Muslimen in Deutschland und lese Hadithe (Überlieferungen der Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed sowie der Handlungen Dritter, die er stillschweigend ge-billigt hat) sowie Koran-Exegesen.

Glaubensexperten?

Dies alles macht mich natürlich nicht zum Islam- oder Koranexperten. Nur: wer oder was könnte ein Islamexperte sein? Oder ein Christentumsexperte? Nein, jeder der sich mit verschiedenen Glaubensvorstellungen ernsthaft befasst, hat das Recht zu versuchen, diese zu verstehen und im allgemeinen Diskurs zu kommentieren. Das Gewicht von ‚Experten’ in dieser Debatte ist nicht per se höher als das jedes ande-ren, der verstehbare und damit rational kritisierbare Argumente vorträgt. Mit dem Konzept ‚Experte’ erleiden wir selbst bei sehr praktischen und diesseitigen Themen oft genug Schiffbruch. Zu Glaubenssystemen passt es gar nicht. In der Nazizeit hatte der einfache Katholik Johann Georg Elser seinen Glauben besser verstanden als der damalige Papst und viele andere hochmögende Theologen.

Die deutsche Kanzlerin (Physikerin und Protestantin) verlangt, die Imame sollten das Verhältnis des Islam zur Gewalt klären. Die Imame? Ich finde, jeder Muslim, jede Muslima, jede Familie, jede Gemeinde müssen ihr Verhältnis zum Koran, zu den ‚Ungläubigen’ und damit auch zu Gewalt klären. Mancher mag sagen, das ist aber ein sehr protestantischer Standpunkt! Dazu sage ich: ja, das ist so! Und: ...das wird noch mehr Unfrieden in muslimische Familien, Milieus und Kulturen bringen. Dazu sage ich: ja, das ist wohl so! Es wäre Teil der notwendigen Revolution, dass Muslime sich nicht von Imamen und anderen ‚Glaubens-Experten’ sagen lassen, was sie zu denken, fühlen und zu glauben haben. Werden die Muslime und wir das aushalten?

Von Januar bis März 2015 habe ich den Koran noch einmal gelesen von der ersten bis zu letzten Zeile. Dazu auch viel im Internet recherchiert. Die Verwunderung wie ich sie vor über vierzig Jahren empfunden habe, stellte sich wieder ein. Nicht etwa wegen realer Blutbäder, abstoßender Gewalt-, und Straforgien plus bizarrer Magie. Was das angeht, haben manche biblische Geschichten, besonders im Alten Testa-ment, mehr zu bieten. Das weiß übrigens jeder brave Christ, Agnostiker und Atheist in Deutschland. Nichtmuslimische Deutsche, die den Koran nicht und die Bibel kaum kennen, wissen zuverlässig, dass es in der Bibel „viel schlimmere“ Texte gibt als im Koran... Aber um die Gruselmonster unter den religiösen Erzählungen geht es nicht. Kaum ein Jude oder Christ zählt diese Geschichten zum Kernbestand seines Glau-bens. Allerdings gibt es im Alten, mehr noch im Neuen Testament, religiös-philosophisch-poetische Weltliteratur auf höchstem Niveau. Die kann ich im Koran nicht finden.

Mein Gesamteindruck vom Koran: freudlos, geistlos, humorlos, lieblos. Neben ‚Allah’ ist ‚Strafe’ die wichtigste Idee im Koran gerne in Bedeutungsüberschneidung mit ‚Ra-che’. ‚Liebe’ - weitgehend Fehlanzeige. Die Bedeutungsfelder ‚Strafe’ und ‚Liebe’ im Koran quantitativ zu erschließen und zu vergleichen - ein lohnendes Projekt für Digi-tal Humanities.

Wenn es um die Ausschmückung der Hölle geht, sind dem phantastischen Sadismus keine Grenzen gesetzt. Mir gleicher Dringlichkeit, mit der die Menschen zum Glau-ben an Allah angehalten werden, werden sie zum Glauben an den Jüngsten Tag ge-nötigt. Das wundert nicht, ist der Jüngste Tag doch der Tag der Abrechnung: Glück den wenigen Gläubigen, Wehe den vielen Ungläubigen.

Freudlos: Ich habe im Koran keine Zeile finden können, die spontane Freude bei mir ausgelöst hätte wie viele Psalmen, Gleichnisse im Neuen Testament, 1. Korinther 13 und andere Bibelstellen.

Geistlos: schon bei meiner ersten Lesung des Koran im Jahre 1972 war ich scho-ckiert von der geringen philosophischen Komplexität und Tiefe eines Buches, das Milliarden Menschen als Leitung dient. Dabei war ich mit sehr positiven Erwartungen an die Lektüre herangegangen. Ich hatte nicht die geringsten Vorbehalte, sondern freute mich auf neue geistig-geistliche Erfahrungen.

Mit meinem enttäuschenden Erlebnis blieb ich allein. Ich kannte in Deutschland nie-manden, mit dem ich über den Koran hätte reden können. In Somalia bestand meine Aufgabe darin, mein sozialwissenschaftliches und technisches Wissen zur Verfügung zu stellen und nicht, religiöse Debatten zu führen. Auch kleine praktische Erlebnisse legten mir Zurückhaltung nahe. Ich machte damals bereits die Erfahrung, wie ich sie heute wieder mache: Manche Muslime, die ich bis dahin als freundliche, liebenswerte Menschen erlebe, werden aus dem Stand heraus aggressiv, wenn es um Glaubens-fragen geht.

Muslimische Korankenner empfehlen heute gerne, den Koran nicht zu lesen wie ein Buch, weil er ein poetisches Gesamtkunstwerk sei, das sich zum Beispiel ganz an-ders anhört und anfühlt, wenn die einzelne Suren und Verse gesungen werden, wie es bis vor wenigen Jahrzehnten ausschließlich üblich war. Ästhetischen Bündnissen zwischen Glaube, Philosophie und Kunst, die Geist und Seele Flügel wachsen las-sen, bin ich sehr gewogen. Ja, ich wäre bereit, selbst wissenschaftliche Einsichten als große Gesänge mit Pauken und Trompeten, mit Harfen und Schallmaien, mit Flüstern und Schreien unter die Menschen zu bringen. Aber: jeder Text muss auch nackt Bestand haben! Ich glaube nicht an die Möglichkeit, aus schwachen Texten starke zu machen, indem man sie ruft, singt, tanzt und mit Weihrauch oder Trocken-eis umweht. Die Versuchung ist groß, Mangel an Geist mit Artistik zu umhüllen. Man-che Opern und Operetten sind nur auszuhalten, so lange man ihre Libretti verdrängt und die Texte nicht versteht. Für mich: Zeitverschwendung - Anti-Kunst, die man nur benommen ertragen kann. Auch die katholische Kirche hat über Jahrhunderte Sinn-fragen erst gar nicht aufkommen lassen, indem sie den Gottesdienst theatralisch ri-tualisierte, am Latein festhielt und ansonsten in Bildern, Rhythmen und Düften schwelgte.

Wenn es um die geistige Verfassung und Gestaltung der Wirklichkeit geht, ist Ver-nunft nicht alles, aber ohne Vernunft ist alles nichts. Ahnung und Intuition, mystische Versenkung, Entzückung, Ekstase, Rausch und Trance können tiefe Einsichten ver-schaffen. Dies alles darf aber nicht an Stelle der Vernunft oder gar gegen sie entfaltet werden, sondern nur mit Respekt vor ihr. Am Auftrag der europäischen Aufklärung müssen wir festhalten!

Strafe und Gewissen

Längst wissen wir, dass die Allgegenwart von Strafandrohungen wenig zur Gewis-sensbildung beitragen kann und Rache ziemlich das Gegenteil von Gerechtigkeit ist. Wichtige Lerneffekte von Strafen sind Verhaltensweisen, um diese Strafen zu ver-meiden. Autonomie, Verantwortungsbereitschaft und Gewissen dagegen brauchen Freiheit und Liebe als Beseeler und Begeistiger. Auch Juden und Christen haben sich über Jahrhunderte in dieser Frage an den Menschen versündigt. Ihre eigene Straflust projizierten sie auf einen strafenden, rächenden Gott.

Es gibt keine Menschenseele im Koran, nur schattenhafte Scharen von Gläubigen und Ungläubigen. Es gibt keine Männer, Frauen und Kinder aus Fleisch und Blut, nur abstrakte Figuren. Welche Fülle eindrucksvoller Männer- und Frauenfiguren dagegen in der Bibel. Der Koran ist angefüllt mit Versprechungen an die Gläubigen und Wut und Drohungen gegen die ‚Ungläubigen’ und ‚Götzendiener’. Es herrschen Zuckerb-rot und Peitsche. Den Gläubigen wird ein süßes Paradies in Aussicht gestellt, den Ungläubigen die ewigen Qualen der Hölle.

Koran als ‚Diskurs’ lesen?

Unter dem Eindruck der Gräuel, die ‚Al Qaida’, der ‚Islamische Staat’, ‚Boko Haram’ und viele andere Terrororganisationen begehen, melden sich seit geraumer Zeit Is-lamgelehrte zu Wort, die einräumen, dass es im Koran Stellen gibt, „...die als gewalt-bejahend ausgelegt werden können“. „...ausgelegt werden können...“? Eine ver-harmlosende Formulierung - am Rande der Wahrhaftigkeit. Der Anspruch, gegen ‚die Ungläubigen’ Gewalt auszuüben, ist unübersehbar und kann nicht philosophisch-religiös-hermeneutisch aus der Welt genuschelt werden.

Korrekterweise sagt Hamideh Mohagheghi weiter: „Nicht nur die salafistischen Grup-pen, auch andere konservative Strömungen verstehen den Koran als Ganzes für alle Zeiten wortwörtlich. Reflektierende Auslegungen lassen sie nicht zu.“ Daraufhin fragt der Interviewer, Matthias Drobinski: „Gehört das nicht zu den Glaubensgrundsätzen des Islam, dass der Koran wörtlich von Gott gegeben ist?“ Antwort Hamideh Mo-hagheghi: „Wir müssen lernen, mit dem Koran, mit Gottes Wort, hermeneutisch um-zugehen und die Bedeutung über den Buschstaben hinaus zu begreifen:“

Na endlich, möchte der geneigte Leser flüstern, rufen, schreien, na endlich! Nur, heißt ‚hermeneutisch’ auch, über weite Strecken den Text ganz außer Kraft setzen, ihn nicht nur „über den Buchstaben hinaus zu begreifen“, sondern entschieden ge-gen das Wort zu verstehen, das da steht? Lange haben wir darauf gewartet, dass Muslime (einige, viele, alle?) die räumlich-zeitlich-kulturelle Gebundenheit ihres heili-gen Buches akzeptieren! Das ist aber nur der erste Schritt. Der zweite folgt logisch: Muslime müssen (wie Christen!) verstehen, dass ihr Heiliges Buch Menschenwerk ist.

Besonders akrobatisch ‚argumentiert’ Halis Albayrak: „Wer dem Koran Argumente für Intoleranz und Krieg entnehmen will, wird fündig – wenn er sich plump an den Buch-staben hält und den historischen Kontext vergisst. Man sollte ihn nicht als Buch, son-dern als Diskurs lesen.“ Und weiter schreibt Albayrak: „Wenn es um den Islam geht, ist der maßgebliche Text der Koran. Sein Kontext besteht darin, welche Erfahrungen Mohammed im Zeitraum in den Jahren von 610 bis 632 nach Christus machte, was währenddessen geschah und aus welchen Elementen die arabische Kultur schöpfte, seien sie geographischer, politischer, historischer, kultureller, religiöser, moralischer oder wirtschaftlicher Art. All die Zusammenhänge haben ihren Anteil an der Entste-hung der Koranverse.

Wenn wir also über Religionsfreiheit sprechen, dann stehen wir vor der logischen Notwendigkeit, ihren historischen Zusammenhang in unsere Lektüre und Interpretati-on miteinzubeziehen. Wenn wir jeden Vers so, das heißt: in seinem eigenen Kontext und in seinem existentiellen Bezugsrahmen lesen, können wir auch das Ziel des Wortes nachvollziehen. Lesen wir den Koran aber mit der Unmethode der Buchsta-bentreue, dann beginnen wir, dem Text unsere eigenen Absichten aufzuzwingen. Das hat zur Folge, dass wir Gott, dem Urheber des Wortes, nicht gerecht werden. Daher bin ich der Meinung, dass die Methode, den Koran nicht wie ein Buch, son-dern wie einen Diskurs zu lesen, die richtige ist.“

Aha: Logik. Hermeneutik. Diskurs. Der Koran als Diskurs... auf die Idee wäre ich bei der Lektüre dieses Buches nicht gekommen. Ein Hoch auf die Leichtigkeit und den kühnen Pragmatismus, mit denen hier Konzepte demokratischer und wissenschaftli-cher Sprech- und Denktraditionen auf den Koran angewandt werden. Ich bleibe zu-rück mit der bangen Frage, was von dieser Schrift übrig bleibt, wenn wir Ernst ma-chen mit Logik, Hermeneutik, Diskurs und Kritik.

Hamideh Mohagheghi widerspreche ich, wenn Sie bezogen auf den ‚Islamischen Staat’ sagt, „...das Totalitäre ist ein Kind der Moderne.“ Richtig ist, dass der Totalita-rismusbegriff an den modernen Totalitarismen Faschismus, Nazismus, Stalinismus, Maoismus etc. entwickelt wurde. Aber totalitäre Glaubensgebäude und Gesell-schaftssysteme gibt es seit Jahrtausenden. Die katholische Kirche zum Beispiel war bis zu den Reformationsbewegungen ein hochgradig totalitäres System, das die Menschen bis tief unter die Bettdecke und in die entferntesten Winkel ihrer Kuhställe kontrollierte mit der Angst vor der Hölle. Wenn der IS und andere über totalitäre Ideo-logien verfügen, sind diese nicht einfach Hitler und Stalin nachempfunden. Ich glaube nicht, dass viele Salafisten und Dschihadisten den Hitlerismus, Stalinismus oder an-dere moderne Totalitarismen gut kennen. Das brauchen sie auch nicht. Sie haben ein Buch, indem Schilderungen von Höllenqualen für die Ungläubigen und süße Ver-sprechungen für die Gläubigen kein Ende nehmen.

Die Ungläubigen

Das Hauptproblem des Koran ist auch keineswegs das konkrete Dulden und Erwar-ten von Gewalthandlungen gegen ‚die Ungläubigen’. Solche Stellen könnte man heu-te wohl relativ leicht ‚hermeneutisch’ isolieren und so entschärfen oder gar unschäd-lich machen. Es ist der nicht enden wollende, inbrünstige, insistierende Fluch gegen ‚die Ungläubigen’, der den Text über weite Strecken bestimmt und so Raum bean-sprucht, der all dem nicht zur Verfügung steht, was uns als geistige und geistliche Nahrung dienen könnte. Das Elend des Koran ergibt sich nicht nur aus dem, was darin steht, sondern vor allem auch aus dem was fehlt, wenn wir mit Matthäus 4.4 empfinden: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein...“.

Auf der Basis globaler Kommunikation können wir das Wirken einer Zuschreibung wie ‚die Ungläubigen’ heute besser besichtigen denn je zuvor. Wer sind ‚die Ungläu-bigen’? Es ist ganz einfach: ‚Die Ungläubigen’ sind immer die Anderen. Nicht nur Schiiten und Sunniten bekämpfen einander mit diesem Fluch, sondern eine Fülle von Deutungsströmungen unter der gemeinsamen Überschrift ‚Islam’. Alle Nicht-Muslime sind ohnehin ‚Ungläubige’ im Sinne des Koran.

Natürlich gibt es keine akzeptablen theologischen Konzepte (nicht zu reden von wis-senschaftlichen), die den lebensgefährlichen Vorwurf, ‚Du bist ein Ungläubiger, ihr seid Ungläubige’ begründen könnten. Glaubens-, und andere Deutungsgemeinschaf-ten sind auch Machtgemeinschaften. Die religiös und/oder ideologisch begründete Ausstoßung des Anderen beruht nicht auf besserer Einsicht und Recht, sondern auf mehr Macht und Gewalt – mithin auf Unrecht. Dies unter anderem haben die alten und neuen Totalitarismen gemeinsam. Der protestantische Theologe Ernst Käse-mann hat die Dummheit als die Erbsünde bezeichnet. Diese Zuordnung leuchtet mir ein. Die dogmatische Unterscheidung zwischen Auserwählten und Erlösten einer-seits und Verfluchten und Verdammten andererseits gehört zu den Spektralfarben der Erbsünde, der Dummheit.

Paradies und Hölle

In vielfach wiederholten Wendungen werden im Koran dem Paradies im Wesentli-chen folgende Qualitäten zugesprochen: lichte, schöne Gärten, von Wasserbächen durchströmt. Die Gläubigen sind angetan mit gold- und silberdurchwirkter Seide. Sie ruhen auf hohen Kissen. Fleisch, Obst, Gemüse, frisches, köstliches Wasser und Wein stehen ihnen wann immer sie wollen zur Verfügung. Den Gläubigen warten unvorstellbar schöne, großäugige Jungfrauen und makellose Jünglinge auf.

Das Paradies im Koran ist weniger ein geistiger als ein sinnlicher, hedonistischer Ort. An dieser Stelle muss ich an den argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges denken , der sich das Paradies als große Bibliothek vorstellte... Wie allzu mensch-lich um nicht zu sagen allzu männlich, im Vergleich dazu die ‚göttlichen’ Vorstellun-gen im Koran. Und wie beschränkt gleichermaßen. Kaum variiert werden die Bilder vom Paradies vielfach wiederholt. Als einziges Motiv, in dieses Paradies gelangen zu wollen, käme für mich die Angst vor der Hölle in Frage.

Einen ungleich größeren textlichen Aufwand betreibt der Koran im Hinblick auf Dro-hungen mit der Hölle für die Ungläubigen. Gerade bei diesem Thema reiht sich eine Wiederholung an die andere. Auch die Hölle ist kein geistiger sondern auf schreckli-che Weise sinnlicher Ort: Die Existenz jedes Ungläubigen verdichtet sich zu unbe-schreiblicher Qual, die ihn seinen Tod herbeiwünschen lässt, der ihm aber nicht ge-währt wird. In Ewigkeit. Übrigens werden den Ungläubigen nicht nur ewige Höllen-qualen in Aussicht gestellt, sondern durchaus schon Strafen im Diesseits.

Gottes Wort?

Der Koran soll das authentische, unverfälschte und ewige Wort Gottes sein? Der schärfste Atheist und Religionsverächter würde uns ein solches Gottesbild nicht zu-muten. Im Zentrum des Buches steht ein eifernder, kleinlicher und nachtragender Gott, der in diesem unendlichen Universum keine größeren Sorgen hat, als den Un-glauben der Ungläubigen und die Frechheit der Götzen, seinem Allmachtsanspruch nicht zu gehorchen. Eine Hauptbotschaft des Koran an die Ungläubigen lautet: „Euch wird das Lachen noch vergehen!“ Kann man es denen, die auch den Krampf jenes Deutschen mit österreichischem Migrationshintergrund gelesen haben, verdenken, dass sie hier Parallelen sehen?

Mit Allah hat Mohammed sich selbst ins Universelle vergrößert und seine Feinde und Anhänger beeindruckt. Seine scheinbare Bescheidenheit „...ich bin nur ein öffentli-cher Prediger...“ verstärkt diesen Effekt. Die Botschaft lautet: Unterwerfung! Sie wird verstanden. Die Gläubigen unterwerfen sich. Die Ungläubigen werden unterworfen.

Götzen und Wundergläubige

Zwei Kategorien von Ungläubigen bringen Mohammed alias Allah, besonders auf. Da sind zum einen jene, die neben Allah oder gar an seiner Statt Götzen verehren. Auf sie reagiert der Herr ganz natürlich: wie ein Platzhirsch beschwört und rühmt er seine Omnipotenz und schmäht die Impotenz seiner Rivalen, der Götzen. Auf die zutiefst negative Rolle der Götzen (der anderen Götter) im Koran muss man jene hinweisen, die nicht verstehen, warum Islamisten seit Jahrzehnten unersetzliche Kulturgüter zerstören. Wenn der Koran das ewig gültige geoffenbarte Wort Gottes ist, dann ist die Vernichtung von ‚Götzen’ und verbotenen Bildnissen mit dem Koran mindestens vereinbar, eher geboten. Bildersturm und Götzenzerstörung beginnen schon beim Propheten selbst und haben über 1437 Jahre nie aufgehört.

Auch das Christentum kennt Epochen mit Bilderstürmerei und Vernichtung von ‚Un-gläubigen’. Auch das Christentum war über Jahrhunderte eine Geißel der Mensch-heit. Denken wir an die unzähligen Pogrome gegen Juden in ganz Europa über Jahr-hunderte. An die Inquisition, eine Menschenquälerei, die sich ebenfalls über Jahr-hunderte hinzog mit Millionen von Opfern. Denken wir daran, wie ganze Kontinente unterworfen wurden mit dem Kreuz in der einen und dem Schwert in der anderen Hand. Schändlicher Umgang mit den Besiegten. Frauen, Fragen, Kritik und Oppositi-on wurden über Jahrhunderte nach Kräften unterdrückt. Dies sind nur wenige Bei-spiele. Bei einem offeneren Charakter der christlichen Kirche könnte man sich vor-stellen, dass die Moderne, incl. Emanzipation, Wissenschaft und Technik sich um Jahrhunderte früher hätte entfalten können. Vom Christentum geht erst Segen aus, seit Christen nach und nach Abstand nehmen vom Allmachts- und Alleinerlösungs-wahn und vom Alleinvertretungsanspruch über die Wahrheit. Diesen enormen Auf-klärungs- und Emanzipationsgewinn dürfen wir jetzt nicht aus falsch verstandener Toleranz gegenüber dem Islam aufgeben.

Die andere Gruppe von Zweiflern und Ungläubigen, die Mohammed alias Allah in Rage bringen, sind jene, die als Beweis für die Göttlichkeit von Mohammeds Bot-schaft Wunder von ihm fordern. Das provoziert wahre Sturzbäche an Beschimpfun-gen, Beteuerungen gegenüber den Ungläubigen und belehrenden Vergleichen mit früheren Gesandten Gottes (Noah, Abraham, Lot, Moses und andere). In vielen Wie-derholungen ruft Mohammed alias Allah die Alten aus dem Alten Testament aus ih-ren Grüften. Sie dienen ihm als Beweis. Beweis wofür?

Noah, Abraham, Lot konnten auch nicht zaubern. Und doch waren sie als Gesandte Allahs Vorläufer Mohammeds. Und wie hart hat Allah die Zeitgenossen dieser Pro-pheten bestraft, weil sie deren Mahnungen und Warnungen nicht glauben wollten. Die verwüsteten Stätten des Alten Testaments, sind ‚klare Beweise’ für die Allmacht und den Zorns Allahs.

Dem einzigen Vorläufer Mohammeds als Gesandtem, der zaubern konnte, nämlich Moses mit seinem Schlangenstab, seiner Stabschlange, glaubt der Pharao nicht. Also, Zauberei hilft auch nicht, die Ungläubigen zum Glauben zu bringen. Das wun-dert nicht. Ist es doch Allah selbst, der die Herzen der Ungläubigen verhärtet und verstockt. Es wäre ihm ein Leichtes, sie recht zu führen. Aber, er tut’s nicht. Warum nicht? Weil er NICHT WILL!

Mohammed verweist die Wundergläubigen auf die wahren Wunder der Welt: Erde, Berge und Himmel. Wasserströme und Winde. Pflanzen und Tiere. Tag und Nacht. An diesen Stellen möchte man ihm zurufen: Ja, Mohammed, zeig’s den Banausen! Die wahren Wunder der Welt und des Lebens sind die alltäglichen. Was ist eine in einen Stab verwandelte Schlange für eine billige Gaukelei, verglichen mit dem alltäg-lichen Sonnenaufgang oder einer Wüstenblume, die nach dem Regen erblüht!

Aber Mohammed verdirbt die Poesie des Staunens, Ergriffenseins, Erkennens und des Geheimnisses gleich wieder, indem er die alltäglichen Wunder der Welt zu Got-tesbeweisen umfunktioniert. Der Koran ‚beweist’ durch heftiges Insistieren. Während man solche ‚Beweisführung’ fürs 7. Jahrhundert in bestimmten Regionen noch nach-vollziehen kann, sind sie für Kinder von Aufklärung, Wissenschaft, Kritik und präzisen Begriffen kaum auszuhalten. „Warum wollt ihr das nicht glauben!?“ zürnt er. Wer nicht glauben will oder kann, ist bösen Willens und wird dafür schlimm bestraft wer-den. Gleichzeitig ist er seinem bösen Schicksal ausgeliefert; denn alleine Allah ent-scheidet darüber, wen er recht leitet und wen er ins Unglück der Hölle laufen lässt.

Ohnmächtige Allmacht?

Auch im Christentum kennen wir solche Verrenkungen, angesichts eines Glaubens an einen allmächtigen Gott, der unentwegt nicht tut, was ein Allmächtiger tun müsste. Haben wir eine Antwort auf die Frage, ‚Wo war Gott in Auschwitz?’? Für mich versu-che ich diesen Widerspruch aufzulösen, indem ich mir Gott gerade nicht allmächtig, sondern ganz im Gegenteil als höchst verletzlich vorstelle. Das Göttliche im Univer-sum ist nicht das All-Mächtige sondern das Kleine, Empfindliche, Verletzliche: Das Lebendige. Das Geistige. Das Heilige. Das Kind in der Krippe. Der Gefolterte am Kreuz und anderswo. Meine Antwort auf die obige Frage: Gott ist in Auschwitz mit den Geschlagenen und Entrechteten ins Gas gegangen. Die Täter hingegen sind von Gott verlassen.

Aber, wie gesagt: mein Wissen und mein Glaube bestehen aus Vorstellungen. Als Kind der Aufklärung und Kenner moderner Bewusstseinswissenschaften und Er-kenntnistheorien weiß ich, dass mein Wissen nicht aus Gewissheiten besteht, son-dern aus Annahmen, für die ich nicht die Hand ins Feuer legen kann. Vor allem nicht die Hand meines Bruders, meiner Schwester. Allerdings: Bei aller Bescheidenheit im Umgang mit Wissen – eines kann ich meinen ähnlich- und andersgläubigen Schwes-tern und Brüdern nicht ersparen: Ich lasse mich nur durch gute Gründe überzeugen, die ich selbst verstehen kann und nicht ein anderer an meiner Statt verstanden hat. Wiederholungen, Drohungen und Tobsüchte, wie wir sie auch in der Bibel finden, und wie sie den Koran durchdringen, erlauben mir nicht von meinen Annahmen ab-zulassen und andere anzunehmen. Bestimmte Anforderungen an Ratio, Logik und das Erheben und Systematisieren von Befunden müssen eingehalten werden. Sonst kommt nur Unfug und Gebrabbel heraus. Ich beuge mich nur dem qualifiziert erho-benen Befund und dem besseren Argument.

Zweifel festigt Wissen

Der erkenntnistheoretische Skeptizismus moderner Philosophie und Wissenschaft, der also glaubt, dass Wissen jedweder Art aus irrtumsanfälligen Annahmen besteht, führt nicht zu größerer Beliebigkeit des Wissens. Im Gegenteil: Erkenntnisse, die fortwährend dem Risiko des Scheiterns ausgesetzt sind, sind viel verlässlicher als ‚Gewissheiten’, die durch Insistieren erzeugt werden. Wissenschaftliches Wissen wird gehärtet im Feuer von Fragen, Zweifel, Kritik, geistigem Wettbewerb, Logik, kri-tischen Argumenten und Widerlegungsversuchen. Dies führt auf sehr vernünftige Weise zur Stabilisierung von Wissen. Es gibt inzwischen viel weltweit anerkanntes wissenschaftliches Wissen, aber wenig religiöses Wissen, das vergleichbar ungeteil-te Anerkennung findet.

Muslimischer Luther?

Es wurde gesagt, der Islam brauche seinen Luther. Das ist wohl gut gemeint aber nicht sehr sinnvoll. Die Bibel ist um Dimensionen anspruchsvoller und komplexer als der Koran. Das wichtigste Verdienst der evangelischen Reformatoren besteht darin, gegen die desolate katholische Kirche des 16. Jahrhunderts emanzipatorische Fel-der in der Bibel zu erschließen. Die Bibelübersetzungen schaffen erst die Vorausset-zungen dafür, dass jeder Gläubige eigene Erkundungen anstellen kann im Hinblick auf die Inhalte seines Glaubens. Damit übernimmt der einfache Gläubige selbst Ver-antwortung für seinen Glauben, sein Denken, sein Handeln, sein Leben und nicht zuletzt für seine Erfolge und sein Misslingen. Dies ist eine der Kernbotschaften des Protestantismus, gewachsen aus den Wurzeln Reformation und Aufklärung. Der Mensch kann umso verantwortungsbewusster handeln, je klarer er weiß, dass er verantwortlich ist. Ideologien, die diesen zentralen Punkt - ich verhalte mich verant-wortlich, weil ich weiß, dass ich verantwortlich bin - vernebeln, schwächen des Men-schen Willen und sein Vermögen zur Selbstbestimmung und Selbstverantwortung.

Neben manchen blutigen und bizarren Geschichten, besonders im Alten Testament, bietet die Bibel emanzipatorische Potentiale, die wir bis heute nicht ausschöpfen können: Psalmen, Weisheiten Salomos, Das Buch Hiob, die Evangelien, (die Berg-predigt!), Briefe der Apostel, um nur einige zu nennen: Philosophie, Glaubensimpulse und Poesie auf höchstem Niveau. In der Bibel finden wir Stellen, die von einem über-irdischen Geist gesprochen anmuten, zum Beispiel Matthäus 5: „43 Ihr habt gehört, dass gesagt ist: "Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen." 44 Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, 45 auf dass ihr Kinder seid eures Vater im Himmel; denn er lässt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte...“ Ähnliches kann ich im Koran nicht finden.

Gehört der Islam zu Deutschland? Zu Europa? Gehören wir zu ihm?

Mich erstaunt die uneingeschränkte Aussage, 'Der Islam gehört zu Europa, zu Deutschland'. Dazu unkritische, schlecht informierte und auf Verdrängung von realen Gefahren beruhende Reaktionen vieler Liberaler und Linker. Ist unsere Angst schon so groß? Wie kommen wir dazu, Menschen, denen der Islam langsam unheimlich wird, in Bausch und Bogen als Rassisten zu verdammen? Bereitwillig transformieren wir einen globalen (!) Kulturkonflikt in einen deutschen, französischen... europäi-schen Rechts-Links-Konflikt. Diese ‚Übersetzung’ ist dem Problem nicht angemes-sen. Sie verschärft die Gefahrenlage in Europa und vielen anderen Teilen der Welt weiter. In Europa läuft es auf eine nachhaltige Stärkung rechter und rechtsextremer Kräfte hinaus. Linke und Liberale leisten dazu ihren Beitrag, indem sie im Hinblick auf den Islam auf ihre klassischen Grundkompetenzen verzichten, nämlich systema-tische Religions-, Zivilisations- und Kulturkritik zu entfalten.

Ganze Generationen linker und liberaler Politiker, Wissenschaftler, Philosophen, Schriftsteller, Kabarettisten, Filmemacher und Künstler haben sich am verstockten und reaktionären Potential christlicher Konfessionen abgearbeitet. Ihre Kritik betraf / betrifft besonders die katholische Kirche. Und siehe da, diese Kritik trägt zum Wandel dieser Konfession bei und zum Aufbau emanzipatorischer Energien. Exemplarisch auf den Punkt gebracht: Ohne jahrhundertelange Kritik am Katholizismus kein Papst Franziskus...

Mit dem Verzicht auf Religions- und Zivilisationskritik am Islam verraten wir nicht nur viele Muslime weltweit, die nicht mehr ein noch aus wissen, unter der Drangsal einer Ideologie, die in einer Sackgasse steckt. Wir verraten auch nachträglich den Wider-stand gegen Hitlerismus und Stalinismus. Spät genug (wenn überhaupt) haben wir nach dem Krieg Geborenen ab 1968 unsere Eltern gefragt, ob sie denn DAS BUCH nicht gelesen hatten, dem man sehr gut hätte entnehmen können, was da kommen würde. Müssen wir nicht fürchten, dass auch wir eines Tages gefragt werden, ob wir DAS BUCH nicht gelesen haben?

Das Buch vom Fluch befreien

Die alles entscheidende Frage lautet: ist der Koran das geoffenbarte Wort Gottes, oder von Menschen verfasst, auf- und abgeschrieben, übersetzt, verstanden und missverstanden wie alle anderen Bücher auch: Ein mehr oder weniger komplexer und unscharfer Niederschlag individueller und kollektiver Erlebnisse, Wahrnehmun-gen, Empfindungen, Erzählungen und Bewusstseinszustände.

Ich kann mir vorstellen, dass Mohammed seine Schübe als Offenbarungen Allahs erlebt hat. Einem Kopfschüttler, Menschenfischer und Fäusterüttler im 7. Jahrhundert kann man das nachsehen. Obgleich dem Leser nicht verborgen bleibt, wie sehr der Prophet seine ‚Gottesoffenbarungen’ politisch zu instrumentalisieren weiß. Wo der Koran als reine Botschaft Gottes verstanden wird, gibt es kaum Spielraum. Man muss gehorchen. Man muss erfüllen. Dies ist die ideologische Grundlage fundamen-talistisch Glaubender.

Wir Heutigen können an der Vorstellung von der ungefilterten Gottesbotschaft nur um den Preis des Selbstbetrugs, des Betrugs, der Gewalt und der Verletzung von Selbstachtung und Menschenwürde festhalten. Ich wiederhole: seit der Aufklärung wissen wir, alles, was wir für Wissen halten, besteht aus irrtumsanfälligen Vorstellun-gen, die auf Wahrnehmung, Phantasie, Bildung und Bildungsdefiziten, auf Erinnern und Vergessen, auf Deutung, Projektion, Konstruktion und Kommunikation von Men-schen und Gemeinschaften beruhen. Das gälte auch, wenn ein Zeichen tatsächlich gottesursprünglich wäre. Sobald ein Zeichen, ein Wort, ein Buch, ein Bild, ein Laut, eine Vibration von uns aufgenommen wird, verwandeln sie sich zuverlässig in Men-schenempfinden und Menschenbewusstsein.

Es gibt auch viele Christen, die an die Bibel als dem unverfälschten Wort Gottes glauben. Ihnen muss man das Gleiche sagen. Uns Menschen steht nichts anderes zur Verfügung als unser individuelles Bewusstsein und die Gesellschaft, das heißt der Menschen, Epochen und die ganze Welt umfassende Kommunikationsprozess. Alles andere werden wir ‚hernach erfahren’. "In einer halben Stunde weiß ich mehr als Sie!" sagte Pater Alfred Delp am 2. Februar 1945 vor seiner Hinrichtung zu dem begleitenden Pfarrer. Was für ein Christ! Was für ein Realist!

Muslime (wie alle anderen Gläubigen und Ungläubigen) müssen lernen, sich kritisch mit ihrer Heiligen Schrift, ihren heiligen Schriften, auseinanderzusetzen. Allerdings: wenn man den Koran von seinen vielen Drohungen und endlosen Wiederholungen befreien würde, bliebe ein sehr schmales Bändchen übrig. Für den Koran gilt, was für die Bibel gilt und alle anderen ‚heiligen’ Texte. Diese Schriften als das unmittelbar und unverfälscht geoffenbarte Wort Gottes zu interpretieren, ist kein Segen sondern Fluch. Im Jargon von Gläubigen gesprochen ist es Gotteslästerung. Von diesem Fluch müssen wir uns selbst, die Welt, die Wörter, Bücher, Klänge und Bilder, Leben und Tod, die Dinge und Gott befreien.

Ich wiederhole: Glauben heißt deuten, interpretieren. Schon die Annahme der Got-tesursprünglichkeit ist selbstverständlich eine Interpretation. Der Umgang mit religiö-sen Texten, Bildern und Vorstellungen hat etwas von Rorschachtest an sich. Wie wir interpretieren hat weniger mit ‚richtig’ und ‚falsch’ zu tun, weil es wenig über die ‚Rea-lität’ sagt (die uns ‚an sich’ verschlossen bleibt), aber sehr viel über uns als Interpre-ten. Sage mir, woran und wie Du glaubst und ich sage Dir, wer Du bist.

Ist aufgeklärter Glaube möglich?

Ist unter der Vorrausetzung eines aufgeklärten, skeptischen, kritischen Bewusstseins Glaube überhaupt möglich? Oder müssen wir uns dem berühmten Marx’schen Dik-tum beugen? „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistlo-ser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.
Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die For-derung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zu-stand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.“

Wir Heutigen sollten begriffen haben, dass Marxens Warnung nicht nur für Religio-nen, sondern für alles Geistige gilt. Es gibt keine geistige Ressource, mit der wir uns nicht berauschen, benebeln und gegenseitig behassen könnten. Verglichen mit den Heilsversprechen politischer Demagogen und kommerzieller Glücksverkäufer unse-rer Tage, sind die Ablassprediger zu Luthers Zeiten fast harmlose Strolche auf den Pfaden menschlichen Irrens. Marxens Analyse ist ernst zu nehmen und seine War-nung ist begründet. Aber Marx unterschätzt die Tiefendimensionen des Glaubens und überschätzt die nicht-religiösen Ressourcen des Glücks. Im Gegensatz zu Marx haben wir durchaus Erfahrung mit Massenwohlfahrt und können einschätzen, wie wenig die Überwindung des ‚Jammertales’ antworten gibt auf Fragen, die wir im Glauben stellen.

Ein Glaube, bei dem wir uns nicht notorisch dumm stellen müssen und Gewissheiten vorgeben, die es nicht gibt, ist überhaupt erst unter dem Schutz und dem Beistand eines aufgeklärten, kritischen Bewusstseins möglich. Kritisches Bewusstsein kann Glauben zum Kern führen. Glaube als persönliches und gemeinschaftliches Projekt des Sehnens, Hoffens und Wünschens sowie der individuellen und gemeinschaftli-chen Infragestellung und Selbstveredelung. Glaube als Dialog mit dem großen DU, das in uns wohnt und uns umgibt: Meditation. Überwindung von Angst. Selbstent-wicklung und Selbstverwirklichung. Vergebung. Liebe. Nächstenliebe. Feindesliebe.

Des Wort, der Geist – Alpha und Omega

„1 Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. 2 Dasselbe war im Anfang bei Gott. 3 Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. 4 In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. 5 Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht begriffen.“

So lange wir diesen großen Gesang an das Wort, an Gott (den Geist) und das Welt-all, an das Leben, das Licht, die Dinge und den Menschen, solange wir diesen philo-sophischen Bescheid eher durch Glauben als durch Ratio und Empirie erschließen können, ist Glauben sinnvoll und möglich. Diese Hymne macht uns nicht dümmer, wie viele religiöse, politische und kommerzielle Schaumschlägereien. Sie fließt als Morgenröte in die Ebenen der immerwährenden und immer gefährdeten Men-schwerdung.

Aufklärung und Kritik lassen die Fragen des Glaubens nicht verstummen sondern befreien den Glauben als Beitrag zum Aufrechten Gang, zur Menschenwürde und zur Menschwerdung jenseits materieller Bedürfnisse. Alles andere werden wir ‚her-nach’ erfahren.

Die großen Narrative ‚Nation’ und ‚Religion’ sind noch lange nicht zu Ende erzählt. Im Gegenteil: In unserer Epoche, in der die großen Strömungen ‚Aufklärung’ und ‚Glo-balisierung’ ineinander fließen (könnten), können wir die Schwerter Religion und Na-tion, die wir in der Geschichte so oft als furchtbare Waffen gegeneinander gerichtet haben, umschmieden zu Pflugscharen. Viele Länder der Welt befinden sich derzeit geradezu in Frühphasen von ‚nation-building’, so auch das Land Europa. Und große Glaubenssysteme, darunter auch die katholische Kirche unter Papst Franziskus, be-ginnen gerade mit ihrem ‚update’ in die modernen, sich immer wieder schmerzhaft selbst aufklärenden Wissenschaftskulturen. Voraussetzung für emanzipatorisches Weitererzählen der Narrative Nation und Religion ist, dass wir allen fundamentalisti-schen Versuchungen widerstehen und schwebende Wahrheiten lieben lernen, ohne konfus, infantil und beliebig zu werden. Sehr schwierig. Aber möglich.

©Hans-Peter Schwöbel

publiziert in: HEUREKA - Die Schriftenreihe der Ostwestfalen-Akademie Nr. 25, Dezember 2015

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