Die Zuhörer auf dem Alten Markt von Karramesch hingen dem weisen Erzähler an den Lippen.
Seine Stimme hypnotisierte sie. Sie begannen zu harren und ins dunkle Licht der Nacht zu starren, bis ihnen der Philosoph Sokrates erschien und sprach: „Niemand kennt den Tod. Es weiß auch keiner, ob er nicht das größte Geschenk für den Menschen ist. Dennoch wird er gefürchtet, als wäre es gewiss, dass er das Schlimmste aller Übel sei.“
Da fürchteten sich die Hörer, Harrer und frommen Starrer und frugen: Warum vom Tode reden, wo doch bald Knospen springen? Da entgegnete der Alte: Wer Antworten ernten will, muss Fragen säen. Einige Antworten dürfen ihm als geistige Nahrung dienen. Die besten aber muss er wieder als Fragen in die Erde legen und in den Himmel säen, mit leichter Hand und breitem Wurf. Damit Antworten reifen, die er ernten und wieder als Fragen säen kann. Dies, sagte der Alte, ist der einzige Weg, reich zu werden: Sät Fragen, erntet Antworten. Sät Antworten, erntet Fragen.
Was sind Wissenschaften? Wissenschaften sind systematische Frageprozesse, die nach Antworten suchen. Heureka! Welche Lust zu verstehen. Doch die Antworten verwandeln sich in neue Fragen. Die endlose Folge von Fragen, die Antworten finden, die sich in neue Fragen verwandeln, die nach neuen Antworten suchen, hat Welten an Wissen geschaffen, in denen und von denen wir leben. Wissenschaft braucht Freiheit und schafft Freiheit. Kein Humanum und keine moderne Zivilisation ohne rationales Erforschen, Erkennen und Begründen, Akzeptieren und Verwerfen. Kulturen, die Aufklärung und Wissenschaft verhindern, sind eine große Gefahr für die Welt. Ihnen müssen wir mutig und selbstbewusst entgegentreten.
Und der Glaube? Er steht den Künsten näher als den Wissenschaften. Seine Ideen und Weisheiten beruhen in besonderer Weise auf Ängsten, Hoffnungen, Projektionen und Konstruktionen. Auch hier gilt: Glauben heißt Fragen. Die scheinbar letzte Antwort erweist sich als Frage: Gott. Glaube, der sich als einzig gültige Antwort auf alle Fragen versteht, ist Aberglaube.
Für 2017 wünsche ich uns Gesundheit, klaren Kopf, kritischen Geist und ein tapferes Herz.
WOCHENBLATT Mannheim
29. Dezember 2016