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Wenn Politiker spüren, dass der Souverän, „das Volk, der große Lümmel“ (Heinrich Heine), ihnen auf die Finger schaut, mahnen sie gerne: „Wir wollen doch nach vorne schaun!“
Diese Framing-Phrase habe ich in meinem Neujahrs-BLOG vom 02. Januar ironisiert. Wer dazu auffordert, „nach vorne zu schauen“ will oft von eigenem Versagen ablenken. Damit dürfen wir gerade jetzt wieder täglich, nein stündlich, Erfahrungen sammeln.
Das Jahr fängt gut an...
In meinem vorherigen BLOG habe ich eine Art komplexes Rorschach-Bild als „Blick in die Zukunft“ angeboten. Den Rorschach-Test muss ich nicht näher beschreiben. Sie finden im Internet jede Menge Informationen dazu. Wichtig: Alle Deutungen, die wir diesen abstrakt-figürlichen Bildern zumessen, sagen wenig über eine objektive Realität, aber viel über uns.
So auch, wenn wir „nach vorne schauen“. Die Zukunft ist keine physikalische Zeit, sondern ein menschlicher Deutungs- und Erwartungshorizont, gefüllt mit unseren Ängsten und Hoffnungen, Wünschen, Sorgen und Sehnsüchten, Projektionen, Planungen, Prognosen und Hochrechnungen. Wie auch die Vergangenheit keine physikalische Zeit ist, sondern ein Deutungshorizont aus Erinnerungen, Vergessen, Verdrängen, Zuschreibungen, Bestandsaufnahmen, Analysen und (Re-)Konstruktionen. Vergangenheit und Zukunft sind individuelle und kollektive Bewusstseinszustände und nur als solche real.
Das Künftige ist nicht, es kommt uns nicht entgegen und wir begegnen ihm nicht wie einem Reisenden oder einem Haus am Straßenrand. Kinder kommen ihren Eltern nicht entgegen, sondern aus ihnen hervor. Das Vergehende erzeugt das Werdende. Die blutende Wunde zwischen dem Vergehenden und dem Werdenden ist die immerwährende Gegenwart. Die Gegenwart hört nie auf, allerdings werden wir eines Tages nicht mehr dabei sein. Aber auf immer wird unser Leben fortwirken, und seien die Wirkungen auch klein und (scheinbar) unbedeutend. Das Vergangene wirkt weiter von Gegenwart zu Gegenwart. Diese Einsicht sollte uns vor Resignation bewahren. Wem gelingt, in diesen wirren Zeiten den Geist der Aufklärung und seinen eigenen Verstand nicht zu verlieren, leistet wichtige Beiträge zu dem, was sein wird (werden kann).
Die Zukunft liegt nicht vor uns, sondern in uns. Kritische Selbstbesinnung, Bestandsaufnahme und Analyse des gesellschaftlich-politischen Prozesses ist der beste „Blick nach vorn“.
Siehe auch: Hans-Peter Schwöbel: Kinder des Wortes. Essays. Feuerbaum-Verlag. Mannheim 2009. Seite 16. ff.
Hier nochmal mein „Blick nach vorne“. Diesmal im Original, nämlich in Farbe. Wenn Sie das Bild konzentriert anschauen, treten Anmutungen von Menschen, Pflanzen, Tieren und Kobolden hervor. Genießen Sie diese Impressionen.
Der Schwöbel-BLOG am Samstag, 09. Januar 2021