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Foto: Hans-Peter Schwöbel
Vollkommen unvollkommen
Hans-Peter Schwöbel
Eine der wichtigsten erkenntnistheoretischen Grundeinsichten lautet: All unser Erkennen, Verstehen, Urteilen, Entscheiden, Handeln und Unterlassen erfolgt unter unvollständiger Information. Ob im Alltag, den Künsten, den Wissenschaften, der Politik oder im Glauben. Unsere Informationsgrundlagen sind immer unvollständig.
Dieser Sachverhalt ist die erkenntnistheoretische Vorrausetzung für das hohe Gut umfassender Denk- und Meinungsfreiheit in allen Feldern. Dies und das uneingeschränkte Recht, Kritik zu üben und das Vermögen, Kritik anzunehmen, sind Voraussetzung für den rasanten Erkenntnis- und Freiheitszuwachs in den letzten Jahrhunderten unter dem Einfluss der Europäischen Aufklärung. Denk- und Meinungsfreiheit ist die wichtigste Errungenschaft der Moderne und ungleich wichtiger als einzelne Erfindungen, Kunstwerke und Produkte.
Wir können den unvollständigen Informationszustand nicht abschaffen, aber die Einschränkungen, die von ihm ausgehen, stark verringern. Wichtigste Persönlichkeitsqualität dafür ist weniger die Intelligenz als die Klugheit: Die Fähigkeit und Bereitschaft, unterschiedliche Informationen besonnen abzuwägen und auch jene Informationen zuzulassen, die bisherigen Erkenntnismustern zu widersprechen scheinen.
Hier ist die Rede von Ambiguitäts-Toleranz, also dem Vermögen, Mehrdeutigkeiten zuzulassen und zu verarbeiten. Ein kluger Mensch unterscheidet sich von einem weniger klugen oder dummen nicht dadurch, dass er etwa über vollständige Informationen verfügen würde, sondern dadurch, dass er mit seiner eigenen und aller Welt Unvollkommenheit anders umgeht. Er informiert sich weiter, vergleicht und sucht den Dialog mit Andersdenkenden.
Uneingeschränkte Meinungsfreiheit ist unverzichtbar. In einer Wissenschaftsgesellschaft und im demokratischen Rechtsstaat darf die Meinungsfreiheit nur durch das Strafgesetz beschränkt werden. Und auch hier gilt höchste Zurückhaltung. Dass in Deutschland Politiker Hunderte von Anzeigen gegen Kritiker stellen, und dass es „Meldestellen“ für unliebsame Äußerungen gibt, ist erbärmlich und verfassungswidrig. Das Gleiche gilt für „Brandmauern“ gegen Andersdenkende. Wo unliebsame Vorträge und Zusammenkünfte Andersdenkender mit massiven Drohungen verhindert werden, wie es allenthalben geschieht, kippen linksexkremistische (!) Übergriffe längst ins Kriminelle. Mit weitgehender staatlicher Duldung, gar Förderung. All dies verteidigt nicht die Demokratie, sondern zerstört sie. Und muss deshalb aufhören.
Wird fortgesetzt.
Der Schwöbel-BLOG am Samstag, 12.07.2025