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Wurzeln der Menschenwürde: Verstehen und Verstandenwerden
Hans-Peter Schwöbel
In meinem Ziel, zu Verstehen und Verstandenwerden zu wollen, kann ich die pietistischen Einflüsse meiner Kindheit und frühen Jugend erkennen. Ich tue meinem Elternhaus nicht Unrecht, wenn ich es als bildungsfern beschreibe. Mit einer wichtigen Ausnahme: Die Bibel spielte in unserem Haus eine überragende Rolle. Jedenfalls, solange die Familie einigermaßen funktionierte.
Mit sieben, acht Jahren las ich schon selbstständig die Bibel – nicht, weil ich sie wie ein Erwachsener verstanden hätte. Vielmehr genoss ich die gewaltige lutherische Sprachwucht. Früh spürte ich, was ich später so formuliert habe: „Sprechen ist Singen!“.
Verstehen war für mich von Kindesbeinen an auch ein Erlebnis von Klängen und Rhythmen. Und: Der strenge protestantische Pietismus hat mit dem Judentum gemein, dass es immer ums Auslegen, Interpretieren, Verstehen, geistiges und geistliches Durchdringen geht. Dies Verstehenwollen, Verstehenmüssen ist Wurzel unbändiger Kreativität im Judentum. Der Pietismus hat Einiges davon.
Mein Vater war in der „Inneren Mission“ als Laienprediger aktiv. Wir gingen zweimal die Woche in die Bibelstunde und hielten jeden Abend Andacht am Küchentisch. „Weltliche“ Lektüre war verboten, ebenso wie Schlagerhören, Fasnacht, Tanz, Fußballspielen und viele andere Lustbarkeiten. Natürlich habe ich mich als starker, vitaler Bub nicht an diese Tabus gehalten. Das hebt aber ihre Existenz nicht auf. Wie im Judentum, wo zwischen einer Fülle von Gesetzen und aktuellen Handlungsnotwendigkeiten und Bedürfnissen Spannungen entstehen, die die Kreativität von Individuen, Kulturen und ganzen Epochen blühen lassen.
Die pietistischen Besonderheiten machten mich in der Schule und an anderen Orten zum Außenseiter. Wohl zu einem geschätzten; denn ich war in vielen Klassen meines Schulweges (incl. Lehre als KfZ-Mechaniker und Zweitem Bildungsweg) Klassensprecher. Für meine Außenseiter-Erfahrungen bin ich zutiefst dankbar. Eltern, Lehrer und woke Progressive wissen nicht, was sie in ihrem Gleichheitswahn Kindern und jungen Menschen antun, auf keinen Fall Außenseitererfahrungen machen müssen zu dürfen.
Menschen können wachsen, wenn sie Hindernisse überwinden müssen und nicht, wenn man ihnen überall die Bahn glättet. Gerade in unseren Tagen gehen große Gefahren nicht von mutigen Außenseitern aus, sondern von Mitläufern, denen noch eingeredet wird, ihr Mitdemstromschwimmen sei Ausdruck von „Haltung“. Das ist Realsatire vom Feinsten.
„Der neue deutsche Faschismus hört auf den Namen Antifa.“
Henryk M. Broder, Cato 5/2024
Der Schwöbel-BLOG am Samstag, 09.08.2025